Arabische_Medizin

Herrlich ist der Orient
über’s Mittelmeer gedrungen
Nur wer Hafis liebt und kennt
weiß was Calderon gesungen
(Goethe: West-Östlicher Diwan)

Die arabische Medizin – Pflanzenheilkunde des Alten Orients und die Entwicklung der Grundlagen moderner Medizin


Spätestens seit „Der Medicus“ Ende der 80er Jahre die Bestsellerlisten anführte, ist einer breiten Öffentlichkeit in Europa ins Bewusstsein gelangt, was bis dahin nur interessierte Mediziner und Medizinhistoriker wussten: Die Medizin des arabisch-islamischen Mittelalters war der im Abendland geübten zeitgenössischen Heilkunst um Jahrhunderte voraus. Aufbauend auf dem umfangreichen medizinischen Wissen der Inder, Perser, Griechen, des alten Orients und früharabischer Heilkunde der Wüste überlieferten und entwickelten die alten Araber in der kulturellen und wissenschaftlichen Blütezeit der islamischen Hochkultur zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert fundierte medizinische Kenntnisse, die seinerzeit beispiellos blieben. Abendländische Mönche, die Übersetzerschulen in Toledo (Spanien) und die Medizinschule in Salerno (Sizilien) machten die arabische Medizin im Abendland  bekannt, bis sie als eine wichtige Grundlage der modernen europäischen Medizin im heutigen Sinne europaweit Bedeutung erlangte.
Neben einer bereits ausgeklügelten Anamnese-Erhebung und einem enormen Heilpflanzenwissen kannten die arabischen Ärzte bereits das Prinzip der „Visite“ im heutigen Sinne und moderne Krankenhäuser mit verschiedenen nach Fachrichtungen geteilten Stationen. Der Einsatz einer Vielzahl von Pflanzen zur Heilung von Kranken spielte eine zentrale Rolle. Kaffee als Herzmittel, in Pulverform gegen Mandelentzündung, Ruhr und schwerheilende Wunden, Kampfer zur Herzbelebung oder auch Sennesblätter, Tamarinden, Cassia, Aloe oder Rhabarber als milde eröffnende (abführende) Mittel sind nur einige Beispele, die verabreicht wurden. Bei Operationen  wurde mit einem Schwamm, der mit einer Mixtur aus Haschisch, Bilsenkraut und Mandragona getränkt war, eine frühe Form der Allgemein-Narkose herbeigeführt, die dann später bis in die europäische Neuzeit hinein über Jahrhunderte vollständig in Vergessenheit geriet.
im Mittelpunkt der therapeutischen Ansätze stand immer die Einheit von Körper und Geist. So ist es überliefert, dass Musik als therapeutisches Mittel zur besseren Genesung der Patienten eingesetzt wurde. In jedem Krankenhaus des 10. Jahrhunderts zwischen Himalya und den Pyrenäen –das arabische Reich hatte seine größte Ausdehnung erreicht - war die ärztliche Visite in den verschiedenen Abteilungen eines Krankenhauses zentraler Ausgangspunkt für jede Diagnose, und der Patient wurde, fast im Sinne moderner ganzheitlicher Methoden, nicht nur nach seinem körperlichen, sondern immer auch nach seinem geistigen Wohlbefinden befragt. Darauf basierend wurde dann die individuelle Behandlung und Diät vom Visite führenden Arzt festgelegt. Der berühmteste unter ihnen, der Arztphilosoph Ibn Sina, ist unter dem Namen Avicenna weit über seine Heimat Persien hinaus auch im Abendland bekannt geworden.
Heute versuchen Pharmakologen und Medizinhistoriker, dem verschollenen Wissen auf die Spur zu kommen. Fernsehsendungen wie die jüngst ausgestrahlte Folge von „ZDF-Expedition: Im Bann der grünen Götter. Die Ärzte der Kalifen“, beschäftigen sich mit diesem Thema. So sagte Avicenna über den Weihrauch im „Kanon der Medizin“, er hälfe und stärke den Geist - was nun durch iranische Pharmakologen im Tierversuch eindrucksvoll experimentell nachgewiesen wurde. Die „Arbeitsgruppe Klostermedizin“ der Universität Bayreuth versucht diesem verschollenen Wissen nun auch mit Hilfe der alten Schriften Avicennas auf die Spur zu kommen.

„Rhases“ (Abu Bakr Muhammad bin Zakariya al Razi)
Vor ca. 600 Jahren besaß die medizinische Fakultät der Pariser Universität die kleinste Bibliothek der Welt. Sie bestand aus genau einem Werk: ein medizinisches Übersichtswerk eines der berühmtesten Ärzte der arabischen Medizin, dem auf dem medizinischen Campus in Paris noch heute ein Denkmal gewidmet ist. Der im Abendland als Rhases bekannt  gewordene Arzt lebte und wirkte in Chorasan von 865- 925 n. Chr.. Rhases studierte in Bagdad Medizin und wurde früh mit der griechischen und indischen Heilkunst vertraut, aber auch als Musiker und Chemiker machte er sich einen Namen. Er soll 237 naturphilosophische und medizinische Traktate und Schriften verfasst haben; neben Abhandlungen zur Physiologie, Pathologie, Therapie und Kasuistik aus eigener Praxis sind umfangreiche Werke zur Anatomie, Chirurgie und Toxikologie (auch über die Wirkung von Heilpflanzen) überliefert. Rhases beschrieb als erster die Pocken und die Masern und vermutete erstmalig, dass die Ursache für Infektionskrankheiten im Blut liegen könne. Viele seiner Werke wurden im Mittelalter von Mönchen ins Lateinische übersetzt. Das herausragende Erbe des Rhases ist die erstmals klar erkennbare Anwendung des Prinzips des wissenschaftlichen Augenscheins auch über das herrschende Dogma hinweg und die empirische Bewertung von Krankheiten und Symptomen. Rhases kann daher ohne Übertreibung als ein Pionier wissenschaftlicher Forschung angesehen werden.

Abulcasis (um 1000)
Abulcasis betonte die Bedeutung der Anatomie für eine kompetente Chirurgie: “....Wer sie (die Chirurgie) ausüben will, muss sich daher zunächst mit der Anatomie vertraut machen [...] muss sich Kenntnis der Knochen, Nerven, Muskeln [....] verschaffen (Chirurgie, ed. Chaning, 1778, Vol. I., S.2-4). Der einst im maurischen Spanien wirkende Abul Qasim-Halaf ibn al Abbas az Zahrawi (im Abendland „Abulcasis“ genannt) schrieb als Hofarzt der Kalifen von Cordoba sein Hauptwerk At Tasrif (Die Verordnung). Für chirurgische Operationen beschreibt es unter Anderem den Gebrauch von Schwämmen zur Narkose, die mit Opium und Mandroga getränkt wurden. Im Medizinmuseum von Damaskus kann man sich heute staunend die Vielzahl chirurgischer Instrumente anschauen, die im 12. Jahrhundert dort eingesetzt wurden und den heutigen im Einsatz befindlichen schon sehr nahe kamen. Das Wissen des Abulcasis fand über Gerhard von Cremona in der Übersetzerschule von Toledo Eingang in die europäische Chirurgie.

Ibn al Baitar („Sohn des Tierarztes“, 1197-1248)
Der im arabischen Malaga des 12.-13. Jahrhunderts lebende Arzt und Botaniker schrieb ein Buch über Arzneimittelheilkunde, das über 1400 pflanzliche Wirkstoffe aufführte. Er beschränkte sich nicht darauf, die umfangreiche zeitgenössische Literatur zu sichten, sondern bereiste jahrelang das maurische Spanien, Nordafrika und Kleinasien, um sich durch eigenen Augenschein vom Niedergeschriebenen zu überzeugen. Damit fasste er das gesamte pharmakologische Wissen über Heilpflanzen seiner Zeit zusammen. Dieses Wissen ging über die Klöster und Übersetzerschulen auch ins Abendland ein.

Ibn an Nafis
Ibn an Nafis entdeckte den Blutkreislauf 400 Jahre vor dem „offiziellen Entdecker“ Harvey. Dies wurde auf spektakuläre Weise im Jahre 1924 von einer medizingeschichtlichen Dissertation an der Universität Freiburg im Breisgau nachgewiesen. Ibn an Nafis erkannte, dass das Blut über die Lunge von der rechten Herzkammer in die linke fließt.

Weitere berühmte Persönlichkeiten der arabischen Medizin waren Avenzoar, der als Erstbeschreiber der Krätzmilbe gilt und somit als früher Parasitologe bekannt wurde, der Aristoteles-Kommentator Averroes und sein Schüler Maimonides, die im maurischen Spanien wirkten und bedeutende Werke zur Ernährung, Hygiene und Toxikologie verfassten.

Avicenna – der Fürst der Ärzte
Avicenna war und ist sicher der bekannteste Vertreter aus der Schule der arabischen Medizin des Mittelalters im Abendland. Sein bekanntestes Werk, der „Kanon der Medizin“ wurde bereits 1279 ins Hebräische und später ins Lateinische übersetzt. Noch um 1650 herum galt es in manchen europäischen medizinischen Fakultäten als Standardwerk. In Persien lebt das Wissen des Avicenna in der Volksmedizin bis heute fort. Er war nicht nur Mediziner, sondern auch Philosoph und Universalgelehrter. Er sammelte im „Kanon der Medizin“ das Heilpflanzenwissen seiner Zeit und wendete es geschickt zur Heilung von Krankheiten an. So schrieb er über den Weihrauch: „Er nützt dem Verstand und stärkt ihn“. Im „Kanon der Medizin“ wird für eine vergleichbare Wirkung die Einnahme mit zermahlenem Honig empfohlen. Erkenntnisse, die aus Forschungen der modernen Medizin bestätigt werden: im Verhaltensversuch mit Laborratten konnte vor Kurzem eine positive pharmakologische Wirkung auf die Gedächtnisleistung sowohl für Weihrauch als auch für Honig nachgewiesen werden.
Zum Weihrauch werden neun Anwendungen beschrieben.

Avicenna über die Herkunft des Weihrauchs, seine Konsistenz und Anwendungen (Aus: Kanon der Medizin, Band 1, S.555, Übersetzung: Dr. med. H. Bustami, Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren):

Herkunft:
Aus dem Lande, das die Griechen Kundur nannten (Indien?, d. Red.) Al Merbaat genannt, brachten die Seekaufleute, die von fremden Winden an die Küsten dieses Landes verschlagen wurden, große Mengen des Weihrauchs mit.
Beschreibung:
Diese Substanz hat eine rundliche Form und  gelblich oder -auberginenfarbenes Aussehen. Die Farbe wird mit der Zeit zunehmend weißlich gelb. Bei der Ernte der Substanz (von dem Baum) muss die Oberfläche trocken sein. Die beste Sorte ist die von weißer Farbe [.....]
Anwendung:

Einnahme:
Mit etwas Honig gelöst zur Stärkung des Verstandes [.....]
Für äußere Anwendung gegen eitrige Wunden, Insektenstiche mit Essig oder Öl verrühren und aufgetragen auf die betroffenen Hautstellen [....] verhindert der Weihrauch die Ausbreitung von dem Schlechten (hier ist die Ausbreitung der Infektion gemeint, d. Red.) auf andere Körperteile.

 

Abbildung:

 

Avicenna (Ibn Sina, 980-1037), Autor des berühmten 5-bändigen „Kanons der Medizin“, das bis weit ins 17.Jahrhundert hinein an allen großen abendländischen Universitäten und Lehrstätten für Medizin als Grundlagenwerk der Ärzteausbildung angesehen wurde. Neben umfangreichen Krankheits-beschreibungen – unter Bezugnahme auf antike und zeitgenössische Gelehrte, aber auch auf vielen eigenen empirischen Beobachtungen basierend – beinhaltet der „Kanon der Medizin“ auch eine Rezeptsammlung mit rund 800 Anwendungen von Heilpflanzen  - oder Kombinationen dieser – zur Behandlung von Krankheiten. (Abbildung mit freundlicher Erlaubnis entnommen aus der Online-Bildergalerie der „Clendening History of Medicine Library, University of Kansas Medical Center, USA)

 

 (Autor: Dr. rer. nat. Hussam Peter Bustami, Übersetzung: Herr Dr. med. Hatem Bustami, Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren)

Hinweis: Für die Richtigkeit der Inhalte wird keine Gewähr übernommen. Die Inhalte dieser Meldung ersetzen keine ärztliche Beratung!

 


Literatur/Quellen:

- Dietrich v. Engelhardt, Fritz Hartmann: „Klassiker der Medizin Band I: Von Hippokrates bis Hufeland“. Verlag C. H. Beck, 443 S., München 1991.
- Sigrid Hunke: „Allahs Sonne über dem Abendland: Unser arabisches Erbe“. Fischer Verlag, 376 S. Lizenzausgabe 1995 Frankfurt a. M.. Originalausgabe in: „Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart“, Stuttgart 1960
- „Kanon der Medizin“, Neuauflage, 4 Bände, Verlag Izz al Din, Beirut, Libanon1987.
- ZDF-Expedition: „Im Bann der grünen Götter – die Ärzte der Kalifen“, ZDF 2004

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